Wie konnte es nur dazu kommen?

30 August 2016 kurz vor Mitternacht
30 August 2016 kurz vor Mitternacht

Obwohl schon eine ganze Weile vergangen ist, merke ich, dass diese Nacht und die darauf folgende Zeit immer noch an mir nagt. 

 

Darüber reden oder schreiben hilft - mir zumindest. Geredet habe ich schon viel, geschrieben noch nicht.

 

Da es vielen anderen Frauen vielleicht ähnlich geht, möchte ich euch gerne auf diese kleine Reise einladen.

 

Am 19. Februar 2016 hielt ich einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Meinen sechsten. 

 

Wenige Wochen später folgte die Bestätigung vom Frauenarzt. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind schwanger. Der vorraussichtliche Entbindungstermin ist der 27.10.2016.

(Ich hatte zwar den 25.10.2016 ausgerechnet, aber die Ärzte gehen ja lieber von ihren eigenen Messwerten aus).

Das sind zwar nur 2 Tage. Diese können sich aber als ewig andauernde 48 Stunden herauskristallisieren.

 

Die Schwangerschaft verlief regelrecht komplikationsfrei - abgesehen davon, dass ich Süßigkeiten weder essen noch riechen konnte. Ich hatte sogar das Gefühl, dass meine Bandscheiben auf wundersame Weise geheilt seien, weil ich keinen Sport gemacht und trotzdem keine Beschwerden oder Schmerzen hatte.

 

Dann stand der (kleine) Zuckertest an. Davor graut es mir in jeder Schwangerschaft. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich die Zuckerlösung herunterbekomme, ohne dass mein Magen sich dessen gleich wieder entledigt.

 

Ein paar Tage später dann die Info

 

ZUCKERWERT ZU HOCH - GROßER ZUCKERTEST!

 

Und das im Urlaub. Ich lasse mir also einen Termin für nach dem Urlaub geben. 

Da habe ich dann allerdings eine fette Nebenhöhlenentzündung und will mich nicht auf die zusätzliche Belastung einlassen. Termin also wieder verschoben.

 

31.08 2016 natürlich nüchtern. 

Mir wird bange, umso näher der Termin rückt. Nicht nur, dass es mir in dieser Schwangerschaft kaum gelingen wird nüchtern zu sein - mein durchschnittlicher Blutdruck liegt bei 90/60 - mir ist auch bange um das Ergebnis. 

Denn bevor ich mich auf den großen Zuckertest einlassen wollte, habe ich natürlich Schwangerschaftsdiabetes gegoogelt 🙊🙉🙈

 

Am 30.08.2016 habe ich dann ab nachmittags zusätzlich zu meiner Unruhe immer wieder leichte und unregelmäßige Kontraktionen. Keine Blutungen oder andere Sondererscheinungen.

 

Mein Mann hat Spätschicht und ist frühestens gegen 21.30 Uhr zurück. Ich werde zunehmend unruhiger.

Mit 5 Kindern zum Arzt, wo ich doch morgen gleich um 7.45 Uhr einen Termin habe? 

Ne, ist ja nicht mein erstes Kind und so fühlt sich keine Geburt an. Für Senkwehen ist es als Mehrgebärende allerdings auch noch viel zu früh - flüstert es in mir.

Ich schiebe es auf die Sorgen rund um den großen Zuckertest.

 

 Abends wird es wieder ruhiger und als ich mit meinem Mann darüber abstimme, dass wir den Arzttermin am nächsten Morgen abwarten, ist erstmal alles gut. 

 

Ich gehe wieder ins Bett. Nun muss ich allerdings andauernd auf die Toilette und in mir brodelt es wieder zunehmend. 

 

Um 23 Uhr rufe ich im Kreissaal an und bin nun sicher wir müssen auf jeden Fall ins Krankenhaus. Die diensthabende Hebamme rät mir ins nächstgelegene Klinikum mit Kinderklinik zu fahren. Ich äußere mein Bedenken, dass wir das vielleicht nicht mehr schaffen. Also sollen wir direkt kommen. 

Ich habe allerdings noch keine Kliniktasche gepackt. Es sind ja noch 8 Wochen bis zum Termin. Also werfe ich hektisch das Notwendigste in eine Tasche. 

Dann geht es los.

 

 Gegen 23.30 kommen wir an und kurz vor der Notaufnahme bete ich, dass es sich noch aufhalten lässt. Die Worte "Lungenreife" und "viel zu früh" geistern mir im Kopf herum. Die Wehen werden nun so stark, dass ich sie veratmen muss und kurz anhalte. Mein Mann ist besorgt, aber die Ruhe selbst.

 

Im Kreissaal kommen mir die diensthabende Ärztin (die bereits bei meinen letzten beiden Geburten anwesend war) und die Hebamme (auch bekannt aus einem früheren Geburtsvorbereitungs- und Rückbildungskurs) entgegen. Sie sehen den ernst da Lage, während ich mich unglaublich über die Anwesenheit 2 vertrauter Gesichter freue und schleusen mich direkt zum Ultraschall.

Dann wird die Ärztin blass und wirft der Hebamme einen Blick zu. Der Muttermund ist bis auf den Saum vollständig geöffnet 😲.

 

Ins nächste Klinikum mit Kinderklinik hätten mein Mann und ich es also definitiv nicht mehr geschafft - gute 30 Min Fahrt und dann nicht genau gewusst wohin...

 

Nun geht alles ganz schnell. 

Es wird ein Zugang gelegt - Wehenhemmer und eine Spritze in den Allerwertesten - Lungenreife. Ich bin mit allem einverstanden - Ich habe Angst um mein Baby.

"Wir können das Baby hier nicht bekommen,   oder es muss direkt weggebracht werden. Es ist viel zu früh. Für solche Fälle sind wir nicht eingerichtet."

In meinem Kopf herrscht Chaos. Der Muttermund ist fast vollständig, ich kann hier nicht mehr weg - will es auch gar nicht. 

Der RTW ist schon angefordert, es wird mit der Klinik telefoniert.

Dann der Schock - Aufnahmestopp. Ich werde unruhiger, die nächste Klinik in die andere Richtung wird kontaktiert - grünes Licht. Aber ich will bleiben. Hier habe ich alle meine Kinder bekommen - hier ist es vertraut.

 

Mein Mann bleibt ruhig, spricht aber ein Machtwort und ehe ich mich versehe, liege ich auf der RTW-Liege und rolle Richtung Fahrstuhl. Und wieder ein bekanntes Gesicht des Rettungssanitäters, dass ich allerdings nicht zuordnen kann.

Die Ärztin fährt mit. Mein Mann im Auto hinterher. 

Ich liege halb kopfüber im RTW und bin voll Adrenalin. Mache Witze darüber, was meine 13 jährige Tochter (totaler Auf Streife - die Spezialisten-Fan) jetzt wohl sagen würde.

Dann habe ich die Uhr im Blick und konzentriere mich aufs Durchhalten - das Beste für mein Baby.

Immer wieder frage ich wo wir sind und wie lange wir noch brauchen. Die Wehen werden immer stärker und die Ärztin spritzt noch 2 Mal Wehenhemmer nach.

Eine gefühlte Ewigkeit später sind wir endlich da.

 Die Wehen werden noch stärker und ich immer lauter. Ich nehme wahr, dass wir am Schlaflabor vorbeirollen und verstumme abrupt. Was die wohl gedacht haben müssen, sage ich laut und schon sind wir im Fahrstuhl. Gleich ist es geschafft.

Mein Mann ist nicht in Sicht. Er muss sich ja auch an Verkehrsregeln halten.

Im Kreissaal soll ich rüber ins Entbindungsbett. Ich habe nicht das Gefühl das noch schaffen zu können. Mit Hilfe geht es dann doch und die Ärztin will sich verabschieden. Ich halte sie fest, flehe sie an zu bleiben. Sie ist doch die einzige Person die ich hier kenne.

Sie fragt die Rettungsanitäter - ihre Mitfahrgelegenheit - und darf noch bleiben. Dann muss ich auch schon pressen und die Ärztin spricht mir Mut zu.

Dann ist der kleine Floh auch schon da um 0.33 Uhr, nach gerade mal 3 Minuten im Kreissaal. Die Ärztin verabschiedet sich mit den Worten, gut dass wir es noch geschafft haben. 

Er ist so winzig klein, ich traue mich nicht ihn zu nehmen oder zu berühren - bin geschockt und froh zugleich.

Geschockt, dass das passiert ist und froh, dass wir es noch geschafft haben anzukommen, so dass er direkt von Spezialisten versorgt werden kann. 

Er ist soooo winzig. 😓

 Nicht auszudenken, wenn er unterwegs gekommen wäre. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird er mir neben das Gesicht gehalten - dieser Duft und Haare 😍. Dann ist er auch schon weg. Dann kamen die Nachgeburt und auch mein Mann. Trauer kommt in mir hoch. Die erste Geburt, bei der er nicht dabei war und die Nabelschnurr durchtrennt hat. 

Dann kehrt Ruhe ein. Alles fühlt sich falsch an. Mein Körper fühlt sich an, als wäre nichts gewesen. Keine Verletzungen nichts.

Das warten zieht sich wie Kaugummi. Ich laufe rum, als wäre nichts gewesen. Ich bin nicht erschöpft oder müde, obwohl es 1 Uhr nachts und später ist. Ich weiß nicht, wie es meinem Baby geht, ob er gesund ist oder irgendwas. Nur eins weiß ich, 8 Wochen zu früh - viel zu früh. Ich war noch nicht so weit gewesen, ihn herzugeben.

Nach Stunden erfahren wir, dass er 1850g wiegt und 42cm groß ist. 

Ich werde auf mein Zimmer gebracht und dann gegen 3 Uhr dürfen wir endlich zu ihm auf die Intensivstation.

So viele Kabel, Monitore und Geräusche. Mir kommen die Tränen.
Tränen der Freude und der Angst, wie es nun weitergeht. Eine junge Ärztin kommt und klärt uns über alles mögliche auf - mehr als mein Gehirn aufnehmen kann. Trotzdem sauge ich alles wie ein Schwamm in mich auf. 
Auf keinen Fall streicheln, das führt zu einer Überreizung. Höchstens die Hand fest an den Körper legen, damit das Baby die Begrenzung und Geborgenheit fühlt. Sanft mit ihm sprechen und einfach dasein.
Er ist insgesamt sehr unruhig und hat gegen fast alles angekämpft. Ein richtiger Kämpfer eben. Noch in dieser Nacht erhält er den Spitznamen "kleiner wilder Stier".
Ich liege die ganze Nacht wach, kann nicht schlafen. Fühle mich auf der Intensivstation fehl am Platz. Jetzt gehört mein Baby den Schwestern der Intensivstation, dass geben sie mir immer wieder zu spüren.
Trotzdem bleibe ich so viel ich ertragen kann bei meinem Sohn. Noch nie war ich von einem meiner Babys solange getrennt.
Da er so unruhig ist und Herztöne und Sauerstoffversorgung immer wieder alarmieren, bekommt er am Donnerstag einen Tuberkus gelegt und es wird ihm ein ganz spezielles Medikament in die Lunge gegeben. Ich bleibe dabei und freue mich, dass der Arzt so viel Ruhe und Zuversicht ausstrahlt. Von ihm fühle ich mich nicht unerwünscht. Die Schwestern wollen mich nicht da haben, sagen mir ich solle ihn wie ein rohes Ei behandeln und bloß keine Fotos machen. Zeitweise wird er sediert, weil er kaum zu beruhigen ist. Als ich Donnerstag Mittag wieder auf die Intensivstation komme, liegt mein Sohn im Blaulicht und vibriert am ganzen Körper. Ich bekomme Panik, kann niemanden antreffen, niemanden fragen, was das bedeutet, ob er ok ist. Innerlich breche ich zusammen, verharre bei meinem Sohn. Eine gefühlte Ewigkeit später kommt der Arzt und erklärt mir, dass das vibrieren von einer besonderen Atmung herrührt, die es meinem Sohn leichter machen soll. Er atmed immer wieder gegen die Beatmung an.
Die Schwestern geben mir das Gefühl, durch meine Ängste meinen Sohn zu beunruhigen - ich glaube ihnen.
Auf meinem Zimmer beginne ich bitterlich zu weinen, kann nicht mehr aufhören und frage mich immer wieder, was ich falsch gemacht habe, dass das passiert ist.
Wenigstens kann ich regelmäßig  Muttermilch abpumpen - es wird zunehmend mehr Milch. Jeder Tropfen ist kostbar. 
An diesem Tag traue ich mich nicht mehr auf die Intensivstation, gebe den Schwestern die Milch für meinen Sohn. Ich bin so verzweifelt, dass ich am liebsten nach Hause und alles hinter mir lassen möchte. 
Ich schäme mich für diese Gedanken und dass mein Sohn bestimmt die Welt gar nicht mehr versteht. Der so gerne raus zu uns wollte und nun noch viel weiter weg ist von seiner Mama, die ihn nun nicht mal mehr besucht. Ich weine bis keine Tränen mehr da sind. Mein Gesicht ist rot und aufgequollen, meine Augen fast zugeschwollen. Mein Herz ist zerrissen. Mir fehlen meine anderen Kinder - heute kann keiner kommen. In dieser Nacht schlafe ich ein wenig. Am nächsten morgen nehme ich mir vor für meinen Sohn durchzuhalten. Als ich auf der Intensiv ankomme, ist der Tuberkus weg. Er kann alleine atmen - will alleine atmen und bekommt lediglich etwas Sauerstoff hinzu. Meine Hoffnungen ihn endlich auf den Arm zu nehmen, werden mir zunichte gemacht.  Immer wieder Blaulichttherapie, weil der Bilirubinwert zu hoch ist. Am Samstag muss ich nach Hause ohne ihn nur ein einziges Mal gehalten zu haben. Zu Hause habe ich dann meine anderen Kinder im Arm.
Am Sonntagmorgen passt eine Freundin auf unsere Kinder auf und ich fahre mit meinen Mann ins Krankenhaus - ohne Hoffnung ihn nehmen zu dürfen. Dann die Überraschung - ich darf ihn endlich halten. Er braucht keinen Sauerstoff während er in meinem Arm ist und schläft so ruhig, wie noch nie seit er auf der Intensiv ist. Ich bin überglücklich und er ist es auch - unsere Herzen beginnen zu heilen 
💖💔💖

Es dauert noch knapp 4 Wochen bis mein Sohn nach Hause darf.

Darüber und über Bindung möchte ich in einem meiner nächsten Blogposts schreiben.

 

 

 

Als unser Sohn endlich zu Hause ist, lasse ich es mir nicht nehmen, "meine" Ärztin nochmal zu besuchen und mich zu bedanken. Sie erzählt mir ihre Sichtweise zu dem für sie filmreifen Erlebnis, wie alles punktgenau ineinander gepasst hat und auch was wir für ein Glück, besonders mit dem RTW-Fahrer hatten. Sie hatte schon mehrfach Fahrer, bei denen sie sich unterwegs übergeben musste - und ich dachte die ganze Fahrt "wieso die Kotzschale?" mir war nicht mal im Ansatz übel 😜.

Den Rettungsanitäter, sprich Fahrer habe ich ebenfalls wieder getroffen und konnte ihn dann auch zuordnen - ein Papa aus dem Kindergarten. Ihr hättet mal sehen sollen, wie es da in meinem Kopf gerattert hat (was hat der bloß alles gesehen 🙊🙉🙈)

Im Nachhinein kann ich nur sagen, dass da jemand seine Hand über uns gehalten hat - so viele kleine Wunder! 

 

 

Bis heute suche ich allerdings nach Antworten, warum das passiert ist. Obwohl mir mehrfach gesagt wurde, dass es dafür keinen bestimmten Grund gibt und jedem passieren kann, ist das für mich keine ausreichende Erklärung unabhängig davon, dass ich in der Zeit auf der Intensivstation viele Mütter kennengelernt habe.

Mit Sicherheit werde ich auch in diesem Zusammenhang mal einen Blogpost  verfassen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    A'ndrea (Mittwoch, 31 Januar 2018 14:55)

    Hier hatte ich noch nicht gelesen, weil es mir gar nicht angezeigt worden ist. Ich war wohl ein wenig zu unfähig der Navigation hier zu folgen.

    Mir kommen die Tränen, wenn ich das lese. Ich weiß sehr gut, was euch da passiert ist.Und es ist gut, das du es in Worte fasst. Das hat mir auch sehr geholfen. Man muss es in Worte fassen.

    Ich mache mir auch immer noch Gedanken darüber, ob ich nicht hier oder da anders hätte handeln können. Habe ein schlechtes Gewissen und ich weiß gar nicht warum. Ja es ist hart, es zu nehmen, wie es ist. Wir wollen unsere Kinder doch schützen.

    Das Stillen hat mir auch sehr geholfen.

    Und auch die Geburt nach meinem Frühchen. Die Schwangerschaft war ewiglich angespannt, die Geburt dann so heilsam. Heilsam wie sie für mich sein können, denn es sind immer Kaiserschnitte und das zu akzeptieren ist auch schwer.

    Viele liebe Grüße
    Andrea - die Grofamilienmama